Toni Innauer

Die Kunst des Loslassens

Gerade erleben wir Raffa Nadals Abschiedstournee. Im Gegensatz zu Künstlern/Musikern hat dies bei Sportlern wie ihm oder Dominik Thiem meist endgültigen Charakter. Es beginnt eine neue Zeitrechnung.

Gemessen an ihrer Glanzzeit sind die einst gefürchteten Waffen merklich stumpfer geworden, sogar Nadals legendäre Vorhand hat ihren Schrecken eingebüßt. Er merkt es selbst, seine jüngeren Gegner wittern es auch bald und nützen es skrupellos aus. Das ist das Gesetz des Dschungels. Der Fan leidet mit, der Vergleich zur einstigen Bestform macht wehmütig. Sogar das unbesiegbare Sandplatzmonster ist angreifbar geworden. Der Zahn der Zeit fordert seinen Tribut. Unbeirrt und ohne Rücksicht auf vergangene Titel, Legendenstatus und Rekorde ticken die biologische Uhr und der Spielstand auf dem Platz.

Der Wanderzirkus hat die Struktur des Jahresablaufs, den täglichen Rhythmus, das eigene Rollenverständnis, den Selbstwert und die Persönlichkeit geprägt. Es gilt, sich prinzipiell nicht nur in Nuancen neu zu orientieren.

Was bin ich, ohne meine Virtuosität, ohne meine Dominanz und Einzigartigkeit?

Habe ich als Mensch nur als Sieger einen Wert, wenn ich gewinne, wenn ich heldenhaft und unantastbar über allem stehe? Muss ich, ohne die allgegenwärtige Unterstützung meiner Betreuer, Angst vor dem normalen Leben haben?
Es ist nicht leicht, Abschied von der Überflieger-Rolle zu nehmen, zu gut, zu intensiv hat sie sich angefühlt.

Familie, Freundeskreis, neue Aufgaben, eine Prise Selbstironie und sogar Poesie können auf der Suche nach einer neuen Rolle und Sinn hilfreich sein.

„I don’t wanna be a hero,

I dont wanna be a big man,

just wanna fight with everyone else,“

singt Family of the Year.

Die Kunst beneidet den Leistungssport gelegentlich um den eindeutigen Zusammenhang von Leistung und Erfolg. Die Kriterien im Sport sind klarer, nachvollziehbarer, „gerechter“.

Der Herbst der Karriere allerdings bevorzugt die Kunstschaffenden und deren Publikum. Auf der Bühne können Alter, verheilte Verletzungen und Erfahrung ein Gesamtkunstwerk bereichern und kreativ und hochwirksam aufladen (Rolling Stones, Erika Pluhar oder Otto Schenk…). In den Sportstadien dagegen werden die wachsenden altersbedingten Anfälligkeiten der Darsteller gnadenlos, unter dem Vergrößerungsglas und in Zeitlupe seziert. Die sportlich-jugendlichen Erfolgskriterien sind, für alle erkennbar und radikal auf schneller, höher und stärker getrimmt.

Ausnahmen wie die professionellen Seniors-Golf-Tours der über Fünfzigjährigen, sind zumindest bislang noch die völlige Ausnahme, die die gnadenlose Regel bestätigt.

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