Toni Innauer

„Fremdenverkehrsmeter“

„Fremdenverkehrsmeter“

Was verbindet alte Schanzenrekorde mit automobilen Verbrauchswerten?

Konkurrenten innerhalb eines Wettbewerbssystems haben oft eine Beißhemmung, wenn sie spüren, dass der Mitbewerber schummelt. Warum?

Wer auf einen Missstand, auf eine Regelumgehung aufmerksam macht, wird reflexartig als Nestbeschmutzer und schlechter Verlierer gebrandmarkt.

Das System hat kein Interesse an Skandalen im eigenen Haus.

Z.B. Skispringen und das ewige Thema mit den Anzügen: Eine Nation munkelt über die andere, man unterstellt sich gegenseitig alle möglichen Tricksereien und Vorteile, die sich der offiziellen Kontrolle entziehen. Wer es wagt, offiziell zu protestieren, der muss gut vorbereitet und sich der Unterstützung vieler Nationen sehr sicher sein, damit der Schuss nicht nach hinten losgeht. Die Beschuldigten empören sich nach Leibeskräften und die offiziellen Stellen fühlen sich angegriffen. Immerhin wurde deren Kontrollsystem indirekt mangelnde Treffsicherheit oder Versagen vorgeworfen. Die protestierende Nation „darf“ umgehend damit rechnen, besonders scharf kontrolliert zu werden. Im Konzert mit den vorwurfsvollen Blicken der Konkurrenz ergibt das eine einschüchternde Bedrohung. Man lässt lieber die Finger vom heißen Eisen…
VW wurde nicht von der Konkurrenz, auch nicht von den offiziellen Prüfbehörden ertappt und an den öffentlichen Pranger gestellt. Eine externe Institution aus den USA brachte Sand ins Getriebe des Weltkonzerns. Im Radsport war es die unabhängige WADA die Gräben in den Dopingsumpf zog. Die Abseitsfalle für Sepp Blatter lauerte auch außerhalb des Systems. Die Kontrolle des eigenen Bereichs versagt dort systematisch, wo sie Image und Geschäftsgang zu stören droht.

Wussten die Mitbewerber, dass bei den niedrigen Abgaswerten von VW etwas faul ist? Schließlich wechseln – nicht nur im Sport – Experten mit delikatem Wissen im Gepäck ihren Arbeitgeber. Im Gegensatz zu Sprunganzügen sind Autos auf dem freien Markt verfüg- und von der Konkurrenz zerlegbar. Ist da nichts aufgefallen? Warum gab es keinen Aufschrei? Ist zu befürchten, dass die „Leichen im eigenen Keller“ die öffentliche Empörung verhinderten? Oder/und wird die Mogelpackung intern als Kavaliersdelikt betrachtet, wie die „Fremdenverkehrsmeter“ im Skispringen früherer Jahre.

Eine ausgereizte 90m-Schanze wuchs kostengünstig zur „100er, in dem der Meterstab bei 90 cm abgesägt wurde. Der Stab hatte dann hundertmal Platz in den 90 real vorhandenen Metern. Die ahnungslosen Touristen bejubelten den neuen Schanzenrekord genauso euphorisch wie sich die Autofahrer über die gemogelten Verbrauchswerte ihres neuen Wagens freuten.

Foto: autorevue.at

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