Wie kann die Vierschanzentournee als Phänomen erfasst werden?
Vielleicht, indem man sich kurz die Irritation vorstellt, die ein Ausfall dieser Traditionsveranstaltung hinterlassen würde.
In unserer säkularisierten Welt bestimmen zwar nach wie vor kirchliche Feiertage die arbeitsfreien Tage, für deren inhaltliche Ausgestaltung ist den Religionen allerdings das Monopol abhanden gekommen. Wirtschaft, Kultur, Sport und in besonderem Maße die mediale Konsumation von Spitzensport strukturieren maßgeblich die Freizeitgewohnheiten. Ich bin überzeugt, viele wären verunsichert, wenn nach dem TV-Neujahrs-Konzert der Philharmoniker nicht ins Stadion von Partenkirchen und zum Neujahrsspringen der Vierschanzentournee umgeschaltet werden würde.
Hockkarätige Hauptdarsteller und ein internationales Zig-millionen-Publikum begehen von dort ausgehend und gemeinsam den Neujahrsnachmittag. Die Zuseher stammen nicht ausschließlich aus dem Kernbereich der eingefleischten Skisprungfans, bei der Tournee mischen sich die Genres mehr als andernorts.
„Die Tournee“ ist eine Sportmarke, die Ende des alten und zu Beginn des neuen Jahres, in einem gemeinsamen profan-rituellen Vollzug beschworen und neu aufgeladen wird. Zum 70-sten Mal wiederholt sich das. Die erlesene Gruppe der Gesamtsieger wird trotzdem niemals inflationär erscheinen, im wohltuenden Vergleich zur unüberschaubaren Anzahl an Formaten und Titelträgern in anderen Sportarten mit jährlichen Weltmeisterschaften. In Bischofshofen wird nur einer* ganz oben stehen!
Schön, dass heuer für den Gesamtsieg erstmals ein angemessenes Preisgeld ausgelobt wird!
Extrem emotionale persönliche Erinnerungen, uralte aber auch zukunftsweisende Beziehungen und Zusammenhänge drängen mich zu dieser, bewusst etwas pathetischen Zusammenschau. Immerhin war ich mit einigen Gründern der Tournee, Putzi Pepeunig oder Franz Rappenglück und dem allerersten legendären Gesamtsieger, Sepp Bradl noch persönlich sehr verbunden. Jahrelang startete ich als Athlet und Trainer hochambitionierte, letztlich aber vergebliche Anstrengungen auf einen Gesamtsieg. Erst „in dritter Instanz“, als Sportdirektor und gemeinsam mit Alex Pointner, war uns der Genuss der Erfüllung vergönnt. Das macht demütig! Auch ein hochdekoriertes Team wie die DSV-Adler kann sich darin wieder finden. Seit 20 Jahren wartet diese große Skisprungnation auf den nächsten Triumph. Das Gute daran: unerfüllte Ziele halten hungrig und verhindern Selbstgefälligkeit.
Als TV-Experte und Agentur der Hauptsponsoren verschiedener Teams, die auch das aktuelle ÖSV-Tourneeküken, Daniel Tschofenig begleiten darf, stehe ich – dankbar erinnernd und ehrfürchtig und gleichermaßen neugierig auf Kommendes – vor der ewig jungen Jubilarin.
*(Jahrhundertausnahme 2005/06 Janda und Ahonen)
Foto: Toni Innauer privat