Toni Innauer

Übertreten!

Am Tag an dem Borussia Dortmund die deutsche Meisterschaft vergeigen wird, sitze ich auf der Tribüne des Mösle-Stadions in Götzis. Meine Schwester und ich genießen einen Tag bunten Weltklassesports und sind Teil eines begeisterten und gleichzeitig entspannten Publikums. Neben mir sitzt Christian Schenk und versorgt uns mit exklusiven Insidereinschätzungen beim 100m-Sprint und Weitsprung oder zur Form des Ex-Weltrekordlers Damian Warner. Christian ist in diesem Fall nicht der Unfallchirurg aus Schruns, sondern der deutsche Zehnkampf-Olympiasieger von Seoul 1988.

Im Gegensatz zum Skispringen, wo zwei Sprünge zählen, hat der Mehrkämpfer drei Versuche im Weitsprung, der beste zählt. Trotzdem hat Simon Ehammer, den ich nach seinem 8,45 m Rekordflug vom Vorjahr unbedingt sehen wollte, einen „Salto Nullo“ fabriziert. Der Rückenwind ist heimtückischer Spielverderber auf unseren Sprungschanzen. Im leichtathletischen Anlauf bringt er eine wertvolle Geschwindigkeitserhöhung, macht aber das Treffen des Absprungbalkens unberechenbar.

Die geballte Ladung an Energie und Hochform des Schweizers sind im Anlauf und der regelrechten Explosion beim Absprung regelrecht greifbar. Der zweite Versuch ist traumhaft, vermutlich über 8,30 Meter weit und auf den ersten Blick gültig.
Die Jury prüft per Video, in Superzeitlupe und zusätzlich auf dem Plastilin-Balken, ob der Sportler übertreten hatte. Der Supersprung des Appenzellers erhält die rote Fahne: ungültig!

So ist die beinharte Regel, im Zehnkampf bedeutet dies den Super-GAU, man kann zusammenpacken und heimfahren. Genau das blüht dem Schweizer, der nach dem dritten Versuch, bei dem er voll ins Plastilin trat und ausrutschte. Zum Glück bleibt er bei diesem gefährlichen Fehltritt unverletzt. Als seine Kollegen mit dem Kugelstoßen loslegen, schleicht Ehammer mit seiner riesigen Sporttasche auf dem Rücken aus dem Stadion. Alle Träume vorübergehend geplatzt, die Topform weder auf den Boden noch auf die Ergebnisliste gebracht…

Als langjähriger Regel-Optimierer im Wintersport frage ich mich, warum die moderne Technik nicht genützt wird, um Weitspringer:innen einen Puffer zu bieten und gleichzeitig die Attraktivität der Sportart zu stützen.
Der Plastilinstreifen, der schon böse Verletzungen provoziert hat, könnte durch eine trittfeste Unterlage ersetzt und zur messtechnischen Pufferzone werden: Wer davor abspringt, verschenkt Zentimeter, danach bleibt ungültig. Wer die Zehen innerhalb der Zone hat, bekommt Abzüge, die von der ohnehin vorhandenen Videomessung geliefert werden. Ehammer wäre mit vermuteten 8.29m, hochmotiviert und zur Freude des Publikums im Zehnkampf geblieben.

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