Toni Innauer

Timing

Skispringer trainieren die Absprungbewegung auf hochmodernen Druckmessplatten. Die Messdaten spiegeln den aktuellen Leistungszustand unter vereinfachten Studiobedingungen. Aus den engmaschig diagnostizierten Werten werden individuelle Trainingsempfehlungen. Ein gläserner Athlet soll im entscheidenden Moment den bestmöglichen Trainingszustand abrufen können.

Dazu braucht es nicht nur Hantelscheiben, Willenskraft, Zahlen, Kurven und Diagramme, sondern auch viel G’spür für die „Belastungsdynamik“. Wie werden Belastung und Erholung bis zu Beginn der Wettkampfserie oder zu den Saisonhöhepunkten ideal getrimmt? Weniger ist – gerade knapp vor Wettkämpfen – mehr! Vertrauen zwischen Trainer und Athlet:in ist so wichtig wie Vertrauen in die Wirksamkeit der gesetzten Maßnahmen und in die magische Selbstregulation der eigenen Biologie. Trotzdem sind Kraft und Struktur des Absprungs noch keine Erfolgsgarantien. Sie verpuffen wirkungslos, wenn sie nicht ideal abgemischt werden mit jenen anderen Kräften, die zu spüren, zu verwalten und optimal zu timen sind. Das, auf der Wunderplatte automatisierte Sprungmuster, das optimierte Zusammenspiel von Knie- und Hüftstreckung kommt auf den Prüfstand der rauen Wirklichkeit. Bei kaum einer Sportart ist der Unterschied zwischen zu früh, zu spät oder „Volltreffer“ so drastisch wie beim Skispringen.

Der Absprung muss auf rutschiger Unterlage und unter enormem zeitlichen Stress bei einem Tempo von über 25 Meter pro Sekunde „auf den Tisch gebracht“ werden. Das überfordert die bewusst kontrollierbaren Wahrnehmungs- und Steuerfähigkeiten des Menschen. Das funktioniert nur mit antrainierter Erfahrung, Rhythmusgefühl, Intuition und blindem Vertrauen in die eigene Einschätzung. Timing in Reinkultur!

Timing als übergeordnetes Phänomen wirkt noch in anderen Handlungsdimensionen unseres Sports: 1981 schon hatte ich dem internationalen Skiverband neue radikale Wettkampfformate vorgeschlagen. Es war zu früh und die Ideen wurden gnadenlos ignoriert. Es mussten zuerst die Berliner Mauer, mit ihr die sozialistischen Staatsprofisysteme hinter dem Eisernen Vorhang und der Amateurparagraph fallen. 1990 passte das Timing und Skispringen ging, mithilfe neuer spannender Formate wie Qualifikation, Finaldurchgang und dem Geld des deutschen Bezahlsenders RTL, „durch die Decke“.

Noch vor ein paar Jahren wäre mir ein Weltcupauftakt auf einer Landebahn aus grüner Kunststoffmatte wirklich peinlich gewesen.

Mitten in Klimawandel, Energiekrise und einer – im Frühwinter deplatzierten – Fußball-WM wird diese Premiere in Polen plötzlich zum Alleinstellungsmerkmal und zukunftsweisenden Statement einer Wintersportart: Wir sind flexibel und kommen, wenn es sein muss, mit ganz wenig Schnee aus.

Das Timing passt!

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