Toni Innauer

Crashtests

Der Skisprung-Weltcup in Willingen hat viele Anlässe zum Nachdenken geliefert. Der gestürzte 161,5 Meter-Sprung des Slowenen Timi Zajc übertraf alles, was ich je an überweiten Sprüngen erlebt hatte. In meinen Skisprunganfängen wäre die Weite noch Weltrekord gewesen!
Um über 160 Meter weit zu fliegen, brauchten unsere Vorgänger in Pullover und Keilhose ehrfurchterweckende 112 Stundenkilometer Anlaufgeschwindigkeit. Zajc machte den riskanten Sensationsflug aber mit nur 86,4 km/h. Es genügten durchschnittliche zwei Meter/Sekunde Aufwind, um ihn in eine Flugkurve jenseits des Kontrollierbaren zu schleudern.

Der Grund dafür ist ein physikalischer: Je langsamer ein Flugkörper unterwegs ist, desto extremer wirken sich unterschiedliche Windbedingungen aus. Düsenjets reagieren kaum auf Wind, während Paraglider unmittelbar und stark beeinflusst werden. Skispringen ist durch den V-Stil, die breiten Latten, die getunten Anzüge und das bedrohliche Leichtgewicht der Sportler:innen bis zur Unkontrollierbarkeit windabhängig geworden.

Die Japanerin Yuki Ito lieferte mit ihrem – gerodelten – 154,5 Meter-Flug das Pendant zum Slowenen. Sie demonstrierte, dass manche Frauen grandios fliegen und sogar über die Rekorde der Männer hinaussegeln können. Andererseits zeigen die nackten Zahlen, dass Ito bei ihrem Flug zwölf Luken höher als Zajc startete und immerhin 91,1 km dazu brauchte. Je extremer die Schanze, desto größer wird der Unterschied dieser Kenngrößen. Auf den gigantischen Flugschanzen brauchen Frauen noch viel mehr Speed als Männer. Solange sicher geflogen und ohne Sturz gelandet wird, ist alles wunderbar. Frauenskifliegen wird für Verzückung bei Zuschauern, Trainern, Vermarktern und Athletinnen sorgen.

Systematisch ausgeblendet wird das Sturzgeschehen. Nach einem wunderbaren Flug auf 128,5m stürzte Jenny Rautionaho in Willingen unglücklich nach vorne. Neben Gesichtsverletzungen zog sie sich einen Pneumothorax zu. Eine Verletzungsmuster, an das ich mich im Herrenspringen über Jahrzehnte nicht erinnern kann – und das wohl in der unterschiedlichen Anatomie der Geschlechter begründet ist.

Zur selben Zeit machte der Beitrag „Maßstab Mann“ auf Puls 4 u.a. auch das Skifliegen für Frauen zum Thema. Mit Vehemenz wurde, auch von Aktiven und Trainern, „gleiches Recht für alle“ gefordert. Frauen würden mit substanzlosen Argumenten am Zutritt auf die größten Schanzen gehindert.

Im selben Beitrag wurde zu Recht angeprangert, dass Frauen ein um über 40 Prozent höheres Verletzungsrisiko bei Autounfällen haben als Männer. Die Dummies bei den Crashtests entsprächen dem Durchschnittsmann, nicht aber der speziellen Anatomie einer Frau. Das sei ein Sicherheitsrisiko für Frauen.

Frauen werden beim Skifliegen mit wesentlich höheren Anlaufgeschwindigkeiten als die Männer unterwegs sein und im Falle eines Sturzes sowohl mit höherer Energie als auch mit anderen körperlichen Voraussetzungen aufprallen.
Als Zuseher fragte ich mich, warum es in dem Beitrag nicht gelang, die Schlüsse aus dem Crashtestvergleich auch auf das Frauenskifliegen anzuwenden.

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