Toni Innauer

Gspür

In einer Diskussion über leistungsbestimmende Faktoren im Spitzensport versteigen sich überraschend viele zur Einschätzung, dass „90% im Kopf“ entschieden werde. Mentale Stärke als DER spielentscheidende Faktor wird gleichermaßen unter- wie überschätzt und meistens zu eindimensional gesehen. Leidenschaftlich wird von Killerinstinkt, Härte und Siegeswillen geschwärmt. „Der oder die ist eine Waffe, eine Maschine!“, das gilt als Adelstitel. Teflon-Typen, wie sie vom TV und Streamingdiensten in beliebigen, und unzerstörbaren Variationen geliefert werden, funktionieren aber nur im Film.

Wer je, mit schlecht präparierten Skiern, oder mit einer leichten Grippe einen Wettkampf gegen Gesunde und materialtechnisch bestens vorbereitete Konkurrenz bestreiten „durfte“, hat hautnah erlebt, dass nicht alles mit purer Willenskraft und Coolness auszugleichen ist. Sehr schnell wird deutlich, wie stark Defizite in anderen Kategorien, z.B. Material, Kondition oder Bewegungstechnik unsere mentale Verfassung und Leistung beeinflussen.

Vor Jahren war ich Berater bei der Entwicklung eines Bundesland-Spitzensportleitbildes. Die geleistete Vorarbeit war akribisch und hoch ambitioniert, der Stand des Leitbildes spiegelte alles wider, was man sich einstellungsmäßig von seiner zukünftigen sportlichen Elite erhoffte: Der Pool war gefüllt mit harten Begriffen wie Beharrlichkeit, Wille, Mut, Disziplin oder Zielfokus.

In einem intensiven und spannenden Prozess wurden zusätzliche Dimensionen wie „Eigenverantwortung“ und sogar „Gspür“ ins Leitbild gehoben. Gspür für eine Aufgabe, für den Bewegungs-Rhythmus, Gspür des Trainers für Belastbarkeit und Potenzial und Ängste der zu Betreuenden, Gspür für die Öffentlichkeit und nicht zuletzt für den eigenen Körper und Geist. Willenskraft und Erfolgsgier ohne Gspür trennt uns nicht nur von den Emotionen der anderen, sondern langfristig auch von den eigenen. Mental stark kann man nur werden und bleiben, wenn man auch das Gefühl für sich selbst ernst nimmt!

Mitten unter jungen Weltmeistern und junggebliebenen Weltrekordhaltern stand ich am Donnerstag in Bischofshofen und blickte vom Friedhof auf die Paul Außerleitner Schanze. Wir verabschiedeten unseren 92jährigen ehemaligen Schüler- Jugend und Co-Trainer Ferdl Wallner. Alle mochten den Ferdl, warum? War es sein Fachwissen oder war es seine kluge Selbsteinschätzung, die ihn immer in der zweiten Reihe bleiben ließ?
Auch deshalb, aber vor allem, weil er Gspür und Humor hatte und uns als junge Menschen und nicht nur als „Waffen oder Maschinen“ gesehen und behandelt hat.

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